Meister Tondal musste sich setzen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als versuchte es derselben zu entkommen. Für einen kurzen Moment wurde dem Meister schwarz vor Augen, jedes Geräusch klang gedämpft.
Dreimal atmete er tief ein und aus, bis sich seine Wahrnehmung normalisierte. Er sah sich im Raum um, nur noch zwei andere Magier waren bei ihm. Der graue, alte Juro machte trotz dieser Katastrophe das selbe stoische Gesicht wie immer. Allein seine verschmutzte Kutte deutete darauf hin, dass heute etwas anders war. Neben dem Alten, der an der kalten Mauer lehnte und lauschte, schritt Almer unruhig auf und ab. Unstet wanderte sein Blick durch den Raum. Sein Haar war verfilzt und er hatte Abschürfungen im Gesicht. Tondal empfand Bedauern bei Almers Anblick. Dieser Bursche war vor gerade einmal zwei Jahren vom Novizen zum Magier geweiht worden. Tondal und Juro hatten ihre Zeit gehabt, das meiste ihres Lebens hinter sich, aber Almer war ein vielversprechender Schüler gewesen. Er hätte ein großartiger Meister werden können.
Tondal musste ein wenig schmunzeln, als er an Almer als Novizen dachte. Mehr als einmal hatte er unter Juros strenger Knute die Statue des Großmeisters putzen müssen. Im Kloster in Nordmar hatte Tondal zu seiner Zeit oft die gesamte Bibliothek fegen müssen. Die Statue des Großmeisters sauber zu halten, war dagegen geradezu ein Spaziergang.
Andere Magier oder gar Novizen gab es hier nicht mehr. Sie waren ohnehin nie viele in dieser Festung gewesen, die schließlich Sitz der Krieger, nicht der Magier war. Und der Meister hatte persönlich dafür gesorgt, dass viele der wertvollsten Besitztümer aus der Festung gebracht worden waren, bevor es zu spät war. Zu diesen wertvollen Dingen hatte er auch die wenigen Novizen gezählt, die den Magiern der Festung früher zur Hand gegangen waren. Sonst würde zu viel zusammen mit der Festung verloren gehen.
Außerhalb des Raums wurde der Lärm der Gefechte geradezu ohrenbetäubend. Schrille Todesschreie wechselten sich mit dem Klirren von Stahl ab.
Wie von der Blutfliege gestochen, sprang Almer nach einem besonders gequälten Schrei auf: „Da draußen sterben unsere Brüder! Und was tun wir? Wir verstecken uns hier oben!“
Betont langsam hob Juro seine Hände und spreizte seine dürren Finger, während er mit zittriger Stimme antwortete: „Wir sind ausgedörrt, Junge. Jedes bisschen magische Kraft, das wir hatten, haben wir verbraucht. Im Nahkampf sind wir nutzlos. Wie viele von den Kriegern noch immer da draußen sein mögen, so können wir ihnen nicht helfen.“
„Und was dann? Diese Gottlosen zerstören die Tempel, schänden Heiligtümer und verbrennen unsere Schriften! Jetzt sind sie hier und töten unsere Brüder! Sollen wir jetzt seelenruhig darauf warten, dass sie auch hier hinein kommen und uns töten?! Ich bin nicht bereit, mich meinem Schicksal kampflos zu ergeben!“
Als Almer das sagte, schossen ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen. Doch seine Worte wurden von einem unheimlichen Grollen übertönt. Durch eines der Fenster des Raums konnten sie sehen, wie ein Turm der Festung brennend in sich zusammenfiel. Funkenwirbel stoben ins Rot der untergehenden Sonne.
Während Tondal sich durch den Bart strich, versuchte Juro den jungen Magier zu beruhigen: „Du bist ein guter Junge, aber noch nicht annähernd so lang ein Magier wie der Meister und ich. Unsere Kräfte erholen sich langsam, während wir hier ausharren. Du hattest nie die Zeit, dies zu erlernen.“
„Dann bin ich noch nutzloser, als ich dachte.“ Juros Worte erreichten das Gegenteil des Beabsichtigten.
Da griff Tondal in seine Robe und zog einen großen Manatrank hervor. Er überreichte das kunstfertige Gefäß mit seinem trüb-blauen Inhalt Almer und sprach: „Trink. Ich hatte gehofft, dich noch irgendwie retten zu können. Aber wenn du an der Seite zweier alter Männer sterben willst, ehrt uns das.“
Gierig schüttete Almer den Trank in seine Kehle. Tondal sah ein, dass sich alle drei in ihr Schicksal würden ergeben müssen. Stück für Stück hatten sie die Festung verloren, Gang für Gang waren die Invasoren vorgedrungen. Winkel für Winkel, Tor für Tor waren Ordensbrüder gefallen, bis sie drei endlich zum höchsten Punkt der Festung geflohen waren. Bald würden die gnadenlosen Eroberer auch an ihrer Tür klopfen, dann käme es zum letzten Gefecht.
Minuten vergingen wie Stunden. Es wurde immer ruhiger auf den Gängen, bis sich schließlich schwere Schritte der Tür näherten. Unverständliche Befehle wurden gebrüllt. Dann begann ein schweres Hämmern gegen das Portal.
Juro stellte sich der Tür gegenüber und hob seine Hände zu einer gebieterischen Geste. Zarte Fäden kühler blauer Energie woben sich von der Rune in seiner Rechten hinab in den Boden des Raums. Steinplatten begannen sich aus dem Boden zu lösen und eine menschenähnliche, aber viel grobschlächtigere Gestalt zu formen. Der Magier schien dem steinernen Diener ein ähnlich strenges Gesicht wie sein eigenes zu verleihen. Stein knirschte über Stein und wortlos gehorchte der eben beschworene Golem den Gedanken seines Herrn.
Noch bevor die Holztür aus der Angel riss, warf sich der Golem gegen sie, um eine letzte Barriere zwischen den Magiern und Angreifern zu schaffen. Doch ihre Angriffe ließen nicht nach. Auf der anderen Seite der Tür erschien ein gleißendes, helles Licht, das sich blitzartig in die Kammer ergoss. Wie von einem Donnerschlag getroffen, zerbrach der steinerne Krieger, der sie eben noch beschützt hatte.
Dann betrat eine unheimliche Gestalt den Raum. Vor den Magiern stand nun ein Schlächter in stählerner Rüstung. Der Stahl seines Panzers war dreckig und über und über mit Blut besudelt, sodass das Wappen auf seiner Brust gänzlich unkenntlich war. Er stank und die Geräusche, die er von sich gab, waren geradezu animalisch. Was zu seiner restlichen Erscheinung passte; dieser Krieger hatte nur wenig Menschenähnliches an sich. Er war ein stählernes Ungetüm, eine Kreatur.
Mit beiden Händen umfasste er einen gewaltigen Zweihänder und schritt langsam auf die von der Druckwelle umgeworfenen Magier zu.
Als erster gelang es dem alten Juro, sich aufzurichten. Seine Beschwörung hatte ihn jedoch sichtlich erschöpft. Das Ungetüm ignorierte den Alten, es schien zu wissen, dass von ihm keine Bedrohung mehr ausging. Es schritt zielstrebig auf den jüngsten der Magier zu, der es angsterfüllt anstarrte. Auch Meister Tondal kam wieder auf die Beine und stützte sich an der Wand ab. In seinem Geist suchte er nach einem Zauber, der dieser Situation angemessen wäre. Seinem wahrscheinlich letzten Zauber. Tondal war jünger als Juro und wesentlich erfahrener als Almer. Er befand sich auf dem Zenit seiner Macht, darum hatten sich seine Kräfte auch von allen am besten erholt.
Schließlich kam dem Meister ein besonders mächtiger Zauber in den Sinn, er betete zu seinem Herrn, dass ihm die Zeit bliebe, ihn zu wirken.
Der Schlächter kam vor Almer zu stehen und holte mit seinem Zweihänder aus. Plötzlich stürzte sich Juro von hinten auf den stählernen Krieger. In irgendeiner Ecke des Raums hatte der Alte einen Besen gefunden, mit dem er jetzt auf den Kopf der Gestalt einschlug. Eher belustigt als bedroht ließ das Ungetüm von Almer ab und wischte mit einem Hieb seiner Waffe den alten Magier beiseite.
Juro sackte an Ort und Stelle tot in sich zusammen. Almer schrie vor Wut und schleuderte einen magischen Blitz gegen den Schlächter, dessen Rüstung kurz aufglühte. Tondal war stolz auf seinen einstigen Schüler. Diesen Zauber hatte er ihm einst beigebracht.
Ein hoher Schrei entfuhr der Kreatur, dann fasste sie sich wieder und stieß mit ihrem Schwert wie mit einem Speer nach Almer. Der Junge wurde von der mächtigen Waffe förmlich gegen die Wand genagelt, doch er lebte.
Langsam näherte sich der Schlächter seinem Opfer. Als er vor Almer stand, riss er sich den Helm vom Kopf und offenbarte das Gesicht eines Mannes mittleren Alters. Seine edlen Züge waren schmerzverzerrt, seine Haut krebsrot, als hätte ihm jemand kochendes Wasser ins Gesicht geschüttet.
Der Mann hob seine linke Hand in die Höhe. Licht floss aus der Rune darin auf seinen Körper und augenblicklich heilte seine versengte Haut. Mit der anderen Hand zog er einen Dolch aus seinem Gürtel und presste ihn dem Magier an die Kehle.
„Im Namen Innos, stirb, du verfluchter Häretiker!“, spuckte er Almer entgegen, dann schnitt er ihm die Kehle durch.
Schließlich wandte sich der Paladin Tondal zu. Der Meister hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt und schien dem Streiter Innos‘ keine Gefahr zu sein. Er würde kurzen Prozess mit dem letzten Magier machen. Ein weiteres Mal hob er den Dolch in die Höhe und sprach: „Frevler und Ketzer, dieser Ort wird euer aller Grab!“ Sanft berührte Tondal mit seiner Hand das Gesicht des Paladins und erwiderte: „So auch eures.“
Plötzlich versank das gesamte Schlachtfeld in einer unheimlichen Stille. Nichts regte sich mehr und es schien, als würde ein kühler Hauch durch die schwer beschädigte Festung ziehen. Das Leben wich aus den steinernen Mauern und das letzte Geräusch das noch zu hören war, glich dem Schlagen einer gewaltigen Schwinge.
Autor: HerrFenrisWolf